“Hauptsache gesund”? “Satt und sauber”? Das reicht offensichtlich nicht, den professionell Pflegenden und sorgenden Angehörigen nicht und den Betroffenen schon gleich gar nicht. Und doch ist in einem Pflegealltag, der zunehmend von Effizienz- und Leistungsgedanken geprägt ist, der sich um Fallpauschalen dreht, selten mehr möglich und oft nicht einmal das. Wer hier anders handeln möchte, muss dies auf Kosten der eigenen persönlichen Freiheit und Gesundheit tun, weil das Berufsleben, die öffentlichen Betreuungs- und Erziehungssysteme dafür keinen Raum lassen. Und so gerät ein wichtiger Aspekt von Care-Arbeit immer mehr aus dem Blick: die Hilfe zur Selbsthilfe, den Betroffenen ein möglichst selbstbestimmtes Leben (wieder) zu ermöglichen.
Mireille Schauer
Mireille Schauer ist Pädagogin/Politikwissenschaftlerin und Epilepsie-Fachberaterin, 2. Vorsitzende des epilepsie bundes-elternverband e.v. und Mitglied der Arbeitsgruppe 240BeKBe.
#Vereinbarkeit #Inklusion #Sicherer_Job_durch_sichere_Betreuungsplätze

Mirelle Schauer
Protokoll
Datum: 29.02.2020
Protokollantin: Sonja Bastin
Inhalt
Schwerpunkt war die soziale Benachteiligung von Kindern mit besonderen Pflegebedarfen und ihrer Eltern.
Teilnehmende
In der Diskussionsgruppe diskutierten selbst Pflegende, Personen, die selbst gepflegt haben sowie gepflegt wurden sowie darüber hinaus Betroffene und Interessierte.
Problem
Die Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen (in Kraft seit 2009) sowie der VN-Kinderrechtskonvention ist noch immer lange nicht ausreichend umgesetzt. Somit ist noch immer eine starke soziale Benachteiligung von Kindern mit Behinderungen und ihren Eltern bzw. Erziehungsberechtigten zu verzeichnen. Darüber hinaus ergeben sich aus der schwierigen Erwerbssituation für die Erziehungsberechtigten der nicht kleinen Zahl von Kindern mit Behinderungen gesamtwirtschaftliche Nachteile.
Hintergrund und Begründung
Vereinbarkeitsanstrengungen suggerieren heute einen gesellschaftlichen und strukturellen Rückhalt und Unterstützung, wenn sich das Individuum für ein Kind entscheidet.
Doch: Für den Fall, dass das Kind mit hohem Pflegebedarf zur Welt kommt oder im Laufe des Lebens schwer erkrankt, greifen viele Strukturen zu kurz.
Eltern mit zu pflegenden Kindern finden (in noch deutlich massiverem Maße als Familien ohne Kinder mit besonderem Pflegebedarf) keine ausreichenden Vereinbarkeitsangebote.
Massive Lücken bestehen in der bedarfsgerechten und qualifizierten, kostenfreien Bereitstellung von inklusiven Betreuungsangeboten von allen Kindern mit besonderem Pflegebedarf (und ihren Geschwistern), unabhängig von der Art der Behinderung, insbesondere:
- für Kinder unter 3 und über 10 Jahren
- am Nachmittag/Ganztagsbereich
- in den Ferien
- bei Unterrichtsausfall
- im Krankheitsfall des Kindes
Frau Schauer berichtet aus dem Arbeitspapier der Arbeitsgruppe 240BeKBe:
Über die im vorgestellten Papier angesprochenen notwendigen Maßnahmen hinaus wurden folgende mögliche unterstützende Maßnahmen diskutiert, um Eltern von Kindern mit Behinderungen eine sichere Berufstätigkeit und den Kindern Gleichbehandlung mit Kindern ohne Behinderungen zu ermöglichen:
a) eine Aufstockung um das Vielfache und flexible Gewährung von Krankheitsfreistellungstagen für erwerbstätige Eltern von Kindern mit besonderen Bedarfen/ Behinderungen.
Kritikpunkt: Ermöglicht zwar sichere Jobausübung der Eltern aber nicht gleichwertige gesellschaftliche Inklusion der Kinder mit Behinderungen
b) Größere Kostenentlastung durch mehr Entlastungsleistung und Vehinderungspflege.
Kritikpunkt: Löst nicht das Problem, dass zu wenig Personal und Plätze verfügbar sind. Und Kinder mit bestimmten Behinderungsformen grundsätzlich benachteiligt berücksichtigt werden bzw. ausgeschlossen werden. Stattdessen sollen Strukturen geschaffen werden, die eine Inanspruchnahme von Verhinderungspflege gänzlich unnötig machen.
c) Lobby herstellen und vergrößern: Wie? Wie kann mehr Aufmerksamkeit geschaffen werden? Für eine Gruppe, die zwar relativ gesehen klein, aber in absoluten Zahlen alles andere als verschwindend gering ist. Und die natürlich sehr aus- und überlastet ist mit der Alltagsbewältigung und entsprechend häufig sehr alleingelassen ist. Und deren Lebenswelt sich der Kenntnis und der Hineinversetzbarkeit von nicht Betroffenen häufig sehr entzieht.
d) Ein Anspruchsrecht zu erlangen ist häufig mit großem Aufwand verbunden und/oder es wird aufgrund geringer Kenntnis gar nicht versucht zu erlangen – insbesondere bei psychischen/seelischen/emotionalen Erkrankungen/Störungen/Behinderungen.
e) Aber selbst, wenn dann ein Leistungsanspruch vorliegt, ist es alles andere als gegeben, dass dieser auch genutzt wird. Leistungen müssen leichter zugänglich gemacht werden für alle. Es muss mehr Transparenz entstehen und eine größere Aufklärung über Anspruchsberechtigung. Denn häufig führen Unkenntnis und bürokratische Hürden zu einer Kumulierung sozialer Benachteiligungen.
Sehr zentral wird hier hervorgehoben, dass es keine Kann- und Antragsleistungen mehr geben darf, sondern eine viel stärker begleitete, automatisierte Gewährung von Leistungen.
Es folgt die Sammlung der besprochenen Maßnahmen (siehe Poster) sowie die Abstimmung über die drei prioritären Maßnahmen:
- Ein Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung für alle Kinder mit Behinderung.
- Die Umsetzung der UN Behinderten- und Kinderrechtskonventionen
- Vereinfachter Zugang zu Informationen über und Leistungen für alle Betroffenen
Ergänzung in Sachen #YoungCarers
Für Kinder und Jugendliche, die zu Hause im Verborgenen ihre Mutter, ihren Vater oder andere Familienmitglieder 20 Stunden pro Woche und mehr pflegen, fordern wir:
- Aufklärungsarbeit an Kita‘s, Schulen, Jugendzentren, Vereinen u. ä., aber auch bei betreuenden Ärzt*innen, Pflegekräften und Psycholog*innen
- Schaffung von kommunalen Beratungs- und Unterstützungsangeboten, z. B. www.echt-unersetzlich.de
- Initiierung von peergroup-Treffen und Young-Carer-Festivals, wie es in Großbritannien bereits üblich ist.