Gastbeitrag von Tine Haubner

Angehörige stemmen in der BRD nach wie vor den Großteil häuslicher Pflegearbeit: 2013 wurden mehr als zwei Drittel aller Pflegebedürftigen (das entspricht 71% oder 1,86 Millionen) häuslich versorgt, davon 47% ausschließlich informell durch Angehörige und 23% in einer Kombination aus ambulanten Diensten und Angehörigen (Statistisches Bundesamt 2015). 

Die Angehörigen können dabei nicht nur als „größter Pflegedienst der Nation“ (vgl. Klie 2014), sondern vor allem als kostengünstigster Anbieter pflegerischer Versorgungsdienstleistungen gelten ─ und sie sind überwiegend Frauen. Die Mehrheit der pflegenden Angehörigen ist weiblich, zwischen 40 und 64 Jahre alt, verheiratet, durchschnittlich mindestens 20 und bis zu 40 Stunden pro Woche in die Pflege eingebunden und pflegt im Schnitt zwischen fünf und acht Jahre lang. Mehr als die Hälfte versucht dabei, Erwerbsarbeit und Pflege zu vereinbaren ─ ein Anspruch, der einer Quadratur des Kreises gleicht, denn mit einem wöchentlichen Zeitaufwand von bis zu 84 Stunden entspricht die häusliche Pflege mitunter sogar mehr als einer Vollzeiterwerbstätigkeit (Blinkert/Klie 2006).

Gesundheitliche Belastung und Armutsrisiko

Die Übernahme von Pflegeverantwortung ist deshalb für viele Frauen mit dem vollständigen Abbruch der Erwerbstätigkeit und Inkaufnahme finanzieller Nachteile verbunden, vor allem wenn es um die zeit- und kraftzehrende Betreuung demenzkranker Angehöriger geht, die nur minimal mit Leistungen der Pflegeversicherung „ergänzt“ wird. Zu diesen arbeitsmarktbezogenen Nachteilen kommt, dass pflegende Angehörige zahlreichen Gesundheitsbelastungen ausgesetzt sind: Sie klagen über eine Schwächung des Immunsystems, die Erhöhung des Blutdrucks und der Herzfrequenz, leiden unter depressiven Symptomen und Beziehungsproblemen und weisen insgesamt mehr körperliche und psychische Beschwerden auf als die Durchschnittsbevölkerung (vgl. Fringer 2011). Frauen pflegen dabei nicht nur am häufigsten, sondern sind im Vergleich mit pflegenden Männern stärker belastet und erleben subjektiv auch mehr Stress. Häusliche Pflege zu übernehmen, bedeutet also insbesondere für Frauen, sich enormen Belastungen auszusetzen und nicht selten Armut zu riskieren.

Und was unternimmt der Staat?

Einem „aktivierenden Staat“, der an einer Geringhaltung der Pflegekosten interessiert ist, kommt diese „privatistische Pflegekultur“ (Evers 1997) äußerst entgegen. Aus diesem Grund sucht er unter dem Druck von demographischem Wandel und Fachkräftemangel, die Pflegeübernahme von Angehörigen, Freunden, Nachbarn, Ehrenamtlichen ─ kurzum möglichst kostengünstigen „guten Geistern“ ─ verstärkt zu fördern (Dyk et al. 2016). Um dieses „informelle Pflegepotenzial“ zu erhalten und auszubauen, wird nämlich vom Gesetzgeber eine bemerkenswerte Wahlfreiheit in Bezug auf materielle Anreize und professionelle Entlastung geboten. So besteht für Leistungsberechtigte der Pflegeversicherung eine für die Gesundheitsversorgung beispiellose Option: Sie können zwischen Sachleistungen, Geldleistungen oder einer Kombination beider wählen. Auf der anderen Seite wurden systematische Zugangsbeschränkungen in Bezug auf die vollstationäre Pflege erlassen. So werden Leistungen für eine vollstationäre Versorgung nur dann gewährt, wenn häusliche Versorgung nicht möglich ist, außerdem müssen die Kosten für Unterkunft und Verpflegung privat getragen werden und die familiären Hilfeleistungen gelten gegenüber der Inanspruchnahme sozialer Dienste als „obligatorisch“. Trotz Wahlfreiheiten entscheidet sich allerdings noch immer die Mehrheit der pflegenden Angehörigen für Geldleistungen und das, obwohl deren Wert nur beinahe die Hälfte der gewährten Sachleistungen beträgt. Warum ist das so? Weil u.a. die Pflegeversicherung als Teilkaskoleistung nur einen Bruchteil der anfallenden Kosten übernimmt und weil sich die pflegerische Versorgung von Menschen nicht in modularisierter Minutenpflege erschöpft.

Es sind demnach nicht nur das vierte Gebot und eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung, die überwiegend weibliche Angehörige zur Pflegeübernahme motivieren, sondern schlicht finanziell bedingte und dem jeweiligen Pflegebedarf korrespondierende Zwänge, die aus politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen resultieren. Häusliche Pflege durch Angehörige ist damit nicht nur ein weiteres Beispielterrain geschlechtsspezifisch ungleich verteilter häuslicher Sorgearbeit. Sie verdeutlicht zudem den Einfluss eines nationalspezifisch „konservativen“ Pflegeregimes, welches die steigenden Pflegebedarfe einer alternden Bevölkerung noch immer erfolgreich in die Obhut privater Haushalte, und dabei überwiegend an Frauen, delegiert.

Tine Haubner
Tine Haubner
arbeitet am soziologischen Institut in Jena, wo sie u.a. zu Sorgearbeit und ihrer Krise lehrt und forscht. Daneben engagiert sie sich im bundesweiten Netzwerk Care Revolution.

Literatur

  • Evers, Adalbert (1997): Geld oder Dienste? Zur Wahl und Verwendung von Geldleistungen im Rahmen der Pflegeversicherung.
    In: WSI Mitteilungen. 7. S. 510–518.
  • Statistisches Bundesamt (2015b): Pflegestatistik 2013. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse. (Abrufdatum: 21.03.2016)
  • Klie, Thomas (2014): Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft. München: Pattloch.
  • Blinkert, Baldo/Klie, Thomas (2006): Die Zeiten der Pflege.
    In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. 39. S. 202–210.
  • Fringer, André (2011): Pflegenden Angehörigen ehrenamtlich helfen. Bürgerschaftliches Engagement im Spannungsfeld öffentlicher Interessen. Marburg: Tectum.
  • Dyk, Silke v./Dowling, Emma/Haubner, Tine (2016): Für ein rebellisches Engagement. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 2. S. 37–40.