Gastbeitrag von Uta Meier-Gräwe

Das brachliegende Potenzial von Frauen ist Ursache für den Fachkräftemangel

Im Frühjahr 2021 warnte der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, vor einer weiteren Verschärfung der Fachkräftelücke in Deutschland: „Wenn wir die Pandemie überstanden haben, wird sich der Mangel an Fachkräften verstärkt zurückmelden.“ Es brauche jährlich etwa 400.000 Menschen, die zuwandern, damit der Arbeitsmarkt im Gleichgewicht bleibt. 2020 lag Deutschland mit 200.000 bis 250.000 Menschen deutlich darunter.
Wie wäre es denn, endlich das brachliegende Qualifikations- und Beschäftigungspotenzial von Frauen in Deutschland zu heben, um diesem Problem beizukommen?
Frauen in Paarbeziehungen mit Kindern und Alleinerziehende verfügen heute zu 78 Prozent über einen qualifizierten Berufs- oder Studienabschluss. Ihre 40-Stunden-Woche ist jedoch – anders als bei der männlichen Vergleichsgruppe – mit unbezahlter Sorgearbeit gefüllt, ergänzt um gerade mal 17 Stunden Erwerbsarbeit. Das heißt: kleine Teilzeit, Minijob oder längere berufliche Auszeiten infolge der Belastung durch die Haus- und Betreuungsarbeit für Kinder und pflegebedürftige Angehörige.
Die Folge: Mütter, die heute Mitte 30 sind, werden im Westen ein um 62 Prozent und im Osten ein um 48 Prozent geringeres Lebenserwerbseinkommen als Männer erzielen. Das führt zu Rentenbezügen, die keineswegs armutsfest sind.
Daran grundlegend etwas zu ändern, ist für eine Gesellschaft, die sich dem Gleichstellungsgrundsatz verpflichtet sieht, überfällig. Neben steuerpolitischen Veränderungen, die auf eine faire Arbeitsteilung zwischen Müttern und Vätern zielen, einer Ausweitung von Elternzeiten und der Aufwertung systemrelevanter Sorgeberufe brauchen berufstätige Eltern eine bezahlbare Entlastung im Haushalt. Der Bedarf nach solchen alltagsunterstützenden Diensten ist groß, erfolgt allerdings bei uns ganz überwiegend in Schwarzarbeit.

Vorbild Belgien: Gutscheine für haushaltsnahe Dienstleistungen

Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD war das Vorhaben enthalten, Zuschüsse für haushaltsnahe Dienstleistungen einzuführen – eine Umsetzung ist jedoch nicht erfolgt.
In Belgien dagegen gibt es seit 2004 staatlich subventionierte Gutscheine für haushaltsnahe Dienstleistungen – mit durchschlagendem Erfolg. Viele irreguläre Jobs wurden in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umgewandelt, Sozialabgaben und Steuern generiert, Dienstleistungsbetriebe konsolidierten sich und last but not least: Frauen konnten ihr Arbeitszeitvolumen in den Gesundheitsberufen ebenso wie im IT-Bereich ausweiten. Die Gutscheine sind dort eine der beliebtesten familienpolitischen Maßnahmen und erfreuen sich großer Nachfrage.

Eine aktive Gestaltung des haushalts- und personenbezogenen Dienstleistungssektors ist auch in Deutschland für eine erfolgreiche und möglichst pandemiefeste Volkswirtschaft gleichermaßen notwendig wie die derzeit viel diskutierten Digitalisierungsoffensiven. Anders wird das Potenzial dieser Frauengeneration, die so gut ausgebildet ist wie noch nie eine vor ihr, jedenfalls nicht zu gewinnen sein.

(Erschienen im Handelsblatt am 7.06.2021)

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Prof.'in Dr. Uta Meier-Gräwe

war bis 2018 Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung.
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