#EqualCareDay
von Tanasgol Sabbagh

Ich wollte zu diesem Anlass ein Gedicht schreiben
Wirklich
Ich hatte mir das so vorgestellt:
Ich stelle meinen Tisch voll mit Büchern
Solche, die ich habe, und solche, die ich noch besorgen muss
Ich erstelle eine Liste mit Artikeln und Podcasts und Videos für Recherche und Inspiration
Ich mache einen langen Spaziergang und halte immer wieder an, um Notizen zu machen
Ich sitze in meinem Sessel, starre aus dem Fenster und denke.
Stundenlang
Setze mich an den Schreibtisch mit freiem Kopf und tippe los

Ich wollte ein Gedicht schreiben
Ich habe den Tisch gedeckt
Ich habe die Bücher besorgt
Ich habe die Listen geschrieben
Den Spaziergang ließ ich ausfallen, weil mein Freund krank wurde und Medikamente brauchte
Auf dem Sessel saß eine Freundin und weinte, und ich brachte ihr Tee
Danach habe ich das Bad geputzt
Den Geschirrspüler leergeräumt, mit dem Hauswart telefoniert
Den Müll runter gebracht
Meinen Eltern einen Brief von der Stadtverwaltung übersetzt
Ihnen erklärt, wie sie sich bei Facebook einloggen können, wenn sie ihr Passwort vergessen haben

Ich wollte zu diesem Anlass ein Gedicht schreiben
Es sollte von Sorge und Fürsorge handeln
Von einer Welt, in der man tatsächlich leben möchte
Von der Ungerechtigkeit der jetzigen
Von der Erschöpfung, ein Mensch zu sein

Ich wollte zu diesem Anlass ein Gedicht schreiben, aber ich schrieb:

500 g Joghurt
Klopapier,
eine Packung Maultaschen
Kochsalz
Walnüsse
Tampons
Rohrreiniger
Kaffee

Ich wollte darüber schreiben, was emotionale Arbeit ist, wer sie leistet und wer vielleicht nicht

Meine Mutter – wenn sie denn Gedichte schrieb – hat sicher seit beginn der 90er damit aufgehört
dann nämlich als ich von ihrem Körper zehrte, bis zum ersten Schrei und darüber hinaus
Seitdem ist sie damit beschäftigt, mit einer Hand meinen Nacken zu stabilisieren
Mit der anderen wischt sie Krümel von der Küchenanrichte
Lernt eine neue Sprache, eine neue Haltung, einen neuen Beruf
Trägt Sorge für die Kinder anderer Leute und wird dafür viel zu wenig bezahlt
Sie weiß, wie man morgens die Müdigkeit überschminkt
Und wie viel Reis gekocht werden muss, wenn Gäste kommen
Wie man die Ausgaben für fünf Personen für einen ganzen Monat, Jahr für Jahr planen kann
Sie weiß, wann wer Geburtstag hat, und immer, wer sich wie fühlt

Ich wollte zu diesem Anlass ein Gedicht über meine Mutter schreiben
Es wäre eine Gedicht über Verzicht geworden
Über die Dehnung und Ausweitung des Tages
Wie ein Mensch allein ihn dehnen und ausweiten kann
Ein Gedicht über fehlende Wertschätzung
Ein Gedicht über Schuld und Scham

Ich wollte ein Gedicht über Schuld und Scham schreiben
Aber dann habe ich es meinem Therapeuten erzählt.

Ein Gedicht über meinen Vater wollte ich schreiben
Der mich in einem Gespräch dreimal fragt, ob ich genug Geld habe
Und siebenmal ob ich nicht doch noch etwas essen will
Und sofort aufspringt, wenn ich sage, dass mein Handydisplay einen Sprung hat
Erleichtert darüber in den Schubladen wühlen zu können und mir ein neues Panzerglas in die Hände zu drücken
Damit es irgendeinen Austausch zwischen uns gibt
Sechzig Jahre Arbeit haben ihm beigebracht zu schleppen und zu tragen und zu werkeln und zu wuseln
Aber nicht seiner Tochter in die Augen zu sehen und über seinen Kummer zu sprechen

Ich wollte zu diesem Anlass ein Gedicht über Sozialisation schreiben
Über die ungleiche Erziehung von Mädchen und Jungen
Wie die Prägung und der Druck von außen sie erst zu Mädchen und Jungen macht
Über ‚Equal Care‘ von Schnerring und Verlan wollte ich schreiben
Über ‚Aufstand aus der Küche’
Über Lohnarbeit und Sorgearbeit
Über das Gefühl erschöpft zu sein und nicht genug zu tun
Ein Gedicht über die unendliche Ressource der Liebe
Und die völlige Verausgabung

Ich war so kurz davor ein Gedicht zu schreiben

Es ginge so:
Liebster, ich habe meine Handtasche gepackt,
Ich habe Brot gepackt und Nüsse und eine Decke
Eine Packung Pflaster falls du dich schneidest
Ibuprofen für die Schmerzen
Wasser für deinen Durst und Schokolade für dein Herz
Ich habe Zeitschriften gepackt, dass du dich nicht langweilst
Und Lyrik, wenn du verweilen und träumen willst
Ich habe an alles gedacht
Ich habe alles gepackt
Bloß den Stift habe ich vergessen
Na, vielleicht hätte ich es dann geschafft, ein Gedicht zu schreiben

von Tanasgol Sabbagh.

Uraufgeführt auf der Online-Konferenz am 1.3.2021 anlässlich des Equal Care Day 2021

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