Katja Kipping

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der Care-Arbeit kaum als Arbeit wahrgenommen wird. Das Problem ist nicht nur die fehlende Anerkennung dieser nicht-bezahlten Arbeit, sondern, dass sie hauptsächlich von Frauen geleistet wird. Die ungleiche Verteilung der Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern bildet einen Knotenpunkt des Patriachats.

Ich möchte das nicht hinnehmen und habe mich deswegen entschieden, in die Offensive zu gehen. Die Lektüre von Texten von Frigga Haug zur Vier-in-einem-Perspektive schulte mich dabei. Ich versuche meine eigene Praxis der Vier-in-Einen-Perspektive anzunähern, also Erwerbsarbeit, politische Einmischung, Sorgearbeit und Muße zusammenzubringen.

Als ich eine Tochter bekam, war für meinen Partner und mich klar, dass wir uns die Erziehungsarbeit fifty-fifty teilen. Nach dem Mutterschutz nahm ich die Arbeit als Abgeordnete wieder auf. Damals hatte meine Tochter einen Stillrhythmus von drei Stunden. Die Ausschusssitzungen, die ich zu leiten hatte, dauerten allerdings in der Regel 3,5 Stunden. Da blieb anfangs eine Differenz von 30 Minuten, die lang werden konnten. Doch das Kind wurde größer und der Stillrhythmus auch. Als meine Tochter sieben Monate alt war, wurde ich Parteivorsitzende.

Für mich war von Anfang klar, solch eine Herausforderung gilt es auch zu nutzen, um einen bescheidenen Beitrag zur Verschiebung des Standards zu leisten. So erzählte ich offensiv in jedem Interview, dass ich sehr darauf achte – von einigen Ausnahmen abgesehen – jeden Tag vier Stunden mit meiner Tochter zu verbringen. Um das zu schaffen, hieß es Prioritäten bei Terminen zu setzen und eine wichtige Vokabel zu lernen: Nein. – und zwar Nein zu Terminanfragen. Und ich machte klar, dass Termine nach 16 Uhr extrem begründungsbedürftig sind. Übrigens nicht nur wegen mir, sondern auch wegen der Mitarbeitenden, von denen einige auch Kinder haben. Wenn ein Abendtermin unverzichtbar ist, versuche ich wenigstens den Nachmittag mit meiner Tochter zu verbringen.
Dabei ist mir bewusst geworden, dass nicht diejenigen, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen, sich rechtfertigen müssen. Nein, diejenigen, die eine 90-Stunden-Job-Woche haben, gehören kritisch befragt. Wer sieben Tage die Woche arbeitet und locker eine 90-Stunden-Woche aufzuweisen hat, der kann sich– rein mathematisch – ja nur vor wichtigen Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit drücken. Eine 90-Stunden-Woche erlaubt faktisch keine Verantwortung für bzw. Zuwendung zu anderen Menschen.

Doch natürlich klappt das auch in meinem Fall nicht immer alles reibungslos. Zum Leben mit Kindern gehört das Unplanbare. Kinderkrankheiten richten sich halt nicht nach Zeitplänen und Redaktionsschlüssen. In der Nacht, in der der Koalitionsvertrag ausgehandelt wurde, hatte meine Tochter Husten, sodass ich kaum zum Schlafen kam. Die Pressekonferenz zur Kritik des Vertrages am nächsten Morgen fiel mir dementsprechend schwer.

Es bedarf einer radikalen Umverteilung der Tätigkeiten auch zwischen den Geschlechtern. Frauen und Männer brauchen gleichermaßen Zeit für Familie, Erwerbsarbeit, politische Teilhabe und Muße. Für eine lebendige Demokratie, für eine verantwortungsvolle Fürsorge und für eine geschlechtergerechte Arbeitsteilung braucht es eine Diskussion um die Verteilung von Zeit und Arbeit in unserer Gesellschaft. Ich bin sehr dankbar, dass der Equal-Care-Day diese Diskussion anstößt.“

Katja Kipping
Katja KippingVorsitzende der Partei Die Linke
Foto: Anke Illing