Ulrike Draesner

Meine Tochter kam zu uns, als sie eben drei Jahre alt geworden war. Es gab also keine Schwangerschaftserfahrung, keine Stillerfahrung und auch nicht die Babybetreuungszeit. Wir hatten ausgemacht, das Kind halbe-halbe zu betreuen, aber als das KInd erschien war, zack, alles anders als verabredet, weil das Kind eine Wahl traf. In der ersten Woche, in der sie bei uns war, schloss unser Tochter sich meinem Mann an. Wir waren noch in Sri Lanka, sie saß den ganzen Tag auf seinem Schoss, und ich durfte das Unterhaltungsprogramm machen für sie. Und ihn. Nach einer Woche wechselte sie plötzlich un dich wurde ihre erste Bezugsperson. Das ist aufschlussreich, denn man fragt sich, woher dieses Verhalten kam und was unsere Tochter angeleitet oder empfunden haben mag. Sie war in einem Kinderheim aufgewachsen, in dem es eigentlich nur Frauen gab. Und keine Stillvorgänge, die sie sonderlich hätte beobachten können. Dennoch wollte sie eben dieses Stillen mit mir nachspielen. Sie wollte mein Kind werden – und das schien dazuzugehören. Ihr Vater kam in diesem Aspekt nur „von außen“ vor. Insofern waren wir unversehens in einer ähnlichen Situation wie in einem leiblichen Eltern-Kind-Verhältnis auch. Wenn er mehr Kontakt mit dem Kind gewollt hätte, hätte er ihn aktiv herstellen müssen. Aber es schien „natürlich“, dass dem nicht so war. Wobei die Frage nun lautet, wo dieses „natürlich“ herkommt. Was für Bilder, vielleicht gar nicht so sehr in ihrem Kopf, als in seinem und meinem, haben das auch mit gesteuert, diese Entscheidung? Was zu dem Gedanken und der Frage führt: wer ist bereit, innerlich, so und so viel zu übernehmen? 
    Dort die Absprache halbe-halbe, und da da sKind: und, das fand ich sehr spürbar, andere Kräfte wurden wirksam, in uns, den Erwachsenen: Rollenklischees, Selbstbilder, Erwartungen, die eigene Erfahrungen als KInd mit Vater oder Mutter, Onkeln oder Tanten. Entscheidend für unser Verhalten und die „Praxis“: Wer nämlich bringt dann im Alltag wi viel Kraft und Durchhaltevermögen auf?

Und dann noch dieses unwillkürliche Moment, das sich auch bei mir einstellte: das Ohr stellte sich auf die Frequenz des Kindes ein. Ich wache auf, es ist auch heute noch so, wenn mein Kind in seinem Schlafzimmer weint. Alle anderen schlafen weiter. Meine Tochter weint leise, wenn sie einen schlechten Traum hat, und ich, die ich sonst tief schlafe und jedes Gewitter überhöre, fahre aus dem Bett. Beiihrem Vate rist das ga rnicht erst eingetreten. Und woran liegt das jetzt? Die Natur? Was ist hier Natur? Ist es nicht doch eher das Gefühl, wirklich verantwortlich und zuständig zu sein?

Ulrike Draesner
Ulrike DraesnerLyrikerin und Autorin
Foto: Marie Luise Noltenius