Heute möchte ich meiner Mama danken, weil ich dank ihr nie aufgehört habe, zu glauben, dass im Leben alles gut werden kann. Und daran, dass im Leben so oft alles gut wurde oder am Ende doch noch gut wird, trägt sie einen großen Anteil.

Meine Mutter heißt Rosi, sie ist 55 Jahre alt und ein wahres Organisationstalent. Meine Mutter ist gelernte Rechtsanwaltsgehilfin und war vor der Geburt ihrer drei Kinder erfolgreich in dieser Erwerbsarbeit tätig.

Zwei Jahre nach der Geburt meines Bruders kamen meine Zwillingsschwester und ich auf die Welt. Ich habe mir kurz versucht vorzustellen, wie der Alltag ohne meine Mutter ausgesehen hätte, aber es gelingt mir nicht. Meine Mutter brachte uns abends ins Bett, sie weckte uns morgens für den Kindergarten oder die Schule, sie schmierte die Brote und war mittags da, wenn wir nacheinander nach Hause kamen. Sie wusste wann, wer, welche Klassenarbeit schrieb und/oder zurückbekam. Sie freute sich mit bei guten Noten und tröstete bei schlechten Ergebnissen. Von Musikschule über Ballett, Fußballplatz und Kunstturnen – jedes von uns drei Geschwistern durfte seinen eigenen Hobbies nachgehen, seine eigenen Freundinnen und Freunde treffen, eigene Ausflüge machen. Was das für ein Fahr- und Organisationsaufwand gewesen sein muss, kann ich erst heute richtig umreißen.

#unverSichtbar: Rosi

Rosi Kup, 55 Jahre,
vorgestellt von Anika Kup

Mein Vater arbeitete im Schichtdienst. Auch seinen Schichtplan hatte meine Mutter im Kopf. Bereitete seine Provianttasche vor und ein warmes Essen stand stets schon auf dem Tisch bevor mein Vater nach Hause kam. Urlaubsplanung, Termine bei Ärztinnen und Ärzten, Elternabende, Kindergeburtstage inklusive Kuchen – die Liste wird länger. Wann sie bei all dem auch noch dafür Sorgen konnte, dass wir Essen und immer etwas Sauberes anzuziehen hatten, ist mir ein Rätsel.

Meine Mutter war da als meine Schwester krank wurde. Bei jedem gebrochenen Knochen, bei jeder Zahnspange, bei jedem Schrammen am Knie.

2005 zog dann meine Oma in die Einliegerwohnung in unserem Haus. Die notwendige Pflege, war am Anfang noch übersichtlich und neben einer Teilzeittätigkeit in der Buchhandlung möglich. Heute wird meine Oma allmählich dement, sie benötigt Hilfe beim An- und Umziehen, beim Waschen und nicht zuletzt beim Erinnern. Kochen kann sie schon lange nicht mehr selbst und dann ist mit dieser Arbeit für meine Mutter auch eine hohe emotionale Verpflichtung verbunden.

Irgendwann wurde meine Mutter selbst krank. Sie verlor fast 95% ihrer Sehkraft auf beiden Augen, doch aufgehalten hat sie das nicht. Die Einkäufe besorgt sie heute mit dem Fahrrad, uns nimmt sie jetzt Sprachnachrichten auf statt Textnachrichten zu tippen – nur eine Pflegekraft für meine Oma kommt nun einmal am Tag zum Umziehen. Die Pflegekraft ist eine Frau.
Ich kann mich nicht an einen einzigen Augenblick erinnern, da meine Mutter sich keine Zeit für mich genommen hätte. Bei jedem Wanken und Zweifeln, bei jeder schwierigen Entscheidung, jedem Missgeschick, jedem Liebeskummer, jedem Moment, in dem ich dachte, jetzt wird wirklich nichts mehr gut, war sie da.

Als mein Vater vor zwei Jahren krank wurde brach für uns alle eine Welt zusammen. Zum Glück ist heute alles stabil – doch ich erinnere mich deutlich daran, dass meine Mutter meinen Vater fragte: „Bin ich abgesichert, wenn es nicht gut ausgeht?“. Mein Vater versicherte ihr das und ich bin mir ganz sicher, dass wir als Familie zusammenhalten – heute wie damals und doch lief es mir in diesem Moment kalt den Rücken hinunter. Wie kann es sein, dass eine Frau, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet hat, Angst haben muss, nicht abgesichert zu sein?

Vor Kurzem habe ich meine Mama gefragt, ob sie sich irgendwann einmal gewünscht hat, sie wäre wieder in ihren Lehrberuf eingestiegen. „Ich hätte eine gute Chefsekretärin in der Kanzlei werden können“, hat sie stolz gesagt und dabei haben ihre Augen geleuchtet. „Den Überblick behalten und organisieren – das kann ich richtig gut“. Dann hat sie gelacht. „Aber das war damals einfach nicht so. Und ich habe das alles gerne gemacht. Ich war für euch da und schau, was für tolle Menschen aus euch geworden sind“. Dann lächelt sie stolz und nimmt mich in den Arm. Sie sagt, sie bereut nichts und ich glaube ihr – umso wichtiger ist mir heute, dass sichtbar wird, was meine Mama die letzten drei Jahrzehnte geleistet hat. Danke, Mama.

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